Bewegung ist Leben

Alterssprache

06.04.2015 07:02

Georg-Gregor Melika (Ungarn)

 

Der altersbedingte Abbau der Sprachfertigkeiten

 

Ohne in Fragen der physiologischen, psychologischen und sozialen Wandlungen des Alterns einzugehen, will ich in diesem Artikel meine Beobachtungen, Erfahrungen und Erkenntnisse darlegen, die bei mir mit dem Altern verlaufen. In Bezug auf das Altern gibt es in der einschlägigen Fachliteratur eine reiche Bibliografie (siehe kognitive Dysphasie bzw. das Altern in Wikipedia).

 

1. Die Verarmung des Wortschatzes durch das Altern der Person

 

Durch das Altern der Person fallen aus ihrer Erinnerung einerseits Geschehnisse von manchen Erlebnissen, andererseits schrumpft sich allmählich der Reichtum des Wortschatzes ein. Diese Prozesse werden mit dem Ausdruck „kognitive Dysphasien“ bezeichnet (Heidler 2006). Bei den Multilingualen leiden an Einschrumpfung die Wortschätze aller von ihnen gesprochenen Sprachen. Diese Prozesse lassen sich besonders an den Störungen des Wortwahlgebrauchs beobachten, des sich nicht gleichmäßig verarmenden onomastischen, appellativischen und einigermaßen des dienstwörtlichen Bestands der im Verkehr angewandten Wortschätze. Am stärksten leiden die Wortschätze der selten aktiv anwendenden Sprachen und stillstehenden Sprachidiomen: bei mir das Elsässische, das Fränkische oder das galizisch Ukrainische.

 

2. Erinnerungsstörungen beim Gebrauch der Eigennamen

 

Als Erstes fällt auf, dass die Eigennamen der Personen aus dem Gedächtnis ausfallen. So kommt es nicht selten vor, dass die Vor- und/oder Nachnamen von Bekannten vergessen werden, unabhängig davon, in welcher Sprache man eben spricht oder denkt. Sogar bei angesträngtem Nachdenken kann sich die ältere Person auf die eben nötigen Personennamen nicht erinnern. Das soll jedoch nicht heißen, dass die Namen der angesprochenen Personen völlig aus dem Gedächtnis gelöscht sind, denn bei anderen Gelegenheiten taucht der vergessene Namen von sich auf. Auch dann kann der Namen wieder erkannt werden, wenn jemand im Gespräch den „vergessenen“ Namen nennt, der dann als ganz natürlich erscheint. Es ist gewöhnlich sehr peinlich, wenn man mit einer bekannten Person spricht, die man beim Namen nicht anreden kann, weil man eben ihn vergessen hat. Solche Fälle kommen nicht nur bei älteren Menschen vor, sondern können auch bei jüngeren Personen beobachtet werden. Wenn bei mir die Namen der direkten Verwandten, Nachbarn, langjährigen Mitarbeiter keine Gedächtnisstockungen hervorrufen, können doch manchmal Denkpausen auftreten, bevor ich den aktuellen Namen nenne. Allgemein beobachtet man, dass der Mensch mit dem Altern die Personennamen von neuen Bekanntschaften sogar für kurze Zeit im Gedächtnis nicht behalten kann: „Ich wende mich um - und schon habe ich den vorgestellten Namen vergessen!“ Das momentane Vergessen bezieht sich vor allem auf die Vornamen, mit deren Erinnerung ich schon immer Probleme hatte. Besonders schwerfällig fällt mir die Erinnerung des Vatersnamens bei russischen Namengebungen, die aus drei Teilen bestehen: aus dem Familiennamen, dem Rufnamen und dem Vatersnamen, z. B. Woronin Iwan Igorowitsch (der Vater), Woronin Petro Iwanowisch (der Sohn), Woronin Fedor Petrowitsch (der Enkel). Die Besonderheit, dass bei mir der Vatersnamen der Personen relativ schwer behalten bleibt, kann durch das Fehlen dieser Namensform unter der Bevölkerung vom Elsass verbunden sein, weswegen mir die Form mit Vornamen + owitsch fremd war.

Allgemein kann die lose Heftung der Vornamen im Gedächtnis zum Teil dadurch erklärt werden, dass sie als individuelle Namen keine persönlichen Züge ihrer Träger angeben, wenn auch die Personen voneinander vornehmlich durch ihre Vornamen bzw. Nachnamen unterschieden werden (Melika 2002). Es gibt eben viele Personen, die Peter heißen jedoch durch Peter können sie voneinander nicht unterschieden werden. An die Namen meiner Mitschüler von Klasse 1 bis 8 erinnere ich mich nur an etwa ein Viertel; von den Studentennamen der Fachmittelschule (1945-47) ist nur einer (Bach Marcel) in Erinnerung geblieben; an die Studentennamen der deutschen Abteilung der Universität Odessa (1956-63) erinnere ich mich kaum an ein Drittel. Im Laufe meines 40-jährigen Unterrichts als Universitätslehrer (Dozent, Professor) erinnere ich mich nur an einen kleinen Bruchteil meiner Hörer und Diplomerwerber.

Die Namen von Städten, Flüssen, Bergen, die ich früher besuchte, scheinen zum großen Teil aus dem Gedächtnis ausgewischt zu sein. Viele Gipfelnamen der ukrainischen Karpaten, die ich bestieg und sie in meinen Routennoten beschrieben habe, stelle ich mir bildlich vor: Jedoch an alle ihre Namen kann ich mich nicht mehr erinnern. Die Ortschaften, wo ich längere Zeit gewohnt habe (im Oberelsass bei Mulhouse, später in Transkarpatien bei Uzhhorod und Mukatschewo) sowie allgemein bekannte Städte von Deutschland, Österreich, Frankreich (Berlin, München, Wien, Salzburg, Paris, Marseille) und von anderen Ländern, die ich besucht habe, sind in meinem Gedächtnis fest geankert; andere dagegen (Ingolstadt, Gmunden, Forcalquier, Ostrava, Saransk, Oradea) tauchen bei Erinnerungsgesprächen nicht gleich auf.

Die Marken von Industrieerzeugnissen (Autos, Kühlschränke, Fernsehgeräte, Waschmaschinen), der Nahrungs- und Textilindustrie treten zwar als Namen auf aber zugleich differenzieren sie die Erzeugnisse gleichen Typus. So z. B. unter dem Namen Renault werden verschiedene Modellmarken unterschieden: Twingo, Clio, Kangoo, Mégane, Fluence, Laguna, Espace u. a. Somit unterscheiden sich die Markennamen von den Vornamen dadurch, dass mit den Personennamen etwa mit Peter ganz verschiedene Personen genannt werden, ohne sie näher zu bestimmen (siehe Beispiel oben). Mit den Markennamen dagegen etwa mit Renault Espace wird immer nur das gleiche Automodell gemeint. In dieser Hinsicht können die Markennamen als Sammelwörter funktionieren, wie die Gattungsnamen, z. B. unter Rose können verschiedene Rosenarten verstanden werden: Kletterrose, Buschrose, Strauchrose, Beetrose, Deckrose. Die Markennamen entstehen und funktionieren als solche nach ihrer Herstellung als Waren und deren Reklame für den Verkauf. Wenn diese aus dem Handel und dem Gebrauch verschwinden, so gehen allmählich auch ihre Namen bei den Klienten in Vergessenheit.

Die Markennamen und die Familiennamen verfügen über die Besonderheit in verschiedenen Sprachen (angepasst an das entsprechende phonetische System) quasi gleich zu lauten: Melika lautet deutsch etwa ['mélіka], englisch ['mεlіka], französisch [mélі'ka], russisch [mε'ľіka], ungarisch ['mεlіkå]; Renault lautet französisch [Rœ'no], deutsch ['Rœno] oder ['rεnolt], russisch [rε'nå], ungarisch ['røno] auch ['rεnålt]. Ausnahmen bilden allgemein bekannte Ländernamen und Städtenamen z. B. Russland: Russisch [rα'sija], deutsch ['rusland], französisch [ry'si:], ungarisch ['orosorsa:g], englisch ['rαſn]; Moskau: Russisch [mαs'kva], deutsch ['moskaυ], französisch [mos'ku], ungarisch ['moskvå] usw. bei älteren Multilingualen können diese Namenformen verwechselt werden, so z. B. nenne ich Wien im Gespräch mit Ungarn nicht Bécs, sondern Viena.

Die Erinnerungsbesonderheit der Personennamen, Ortsnamen und Markennamen bestehen darin, dass sie an sich unsemantisch sind. Sie stellen keine extralingualen Vorstellungen dar, wie es dagegen begrifflich bei den Appellativen ist. Deswegen taucht der Gedanken auf, dass die Eigennamen einerseits und die Appellativen andererseits in verschiedenen Sprachbereichen des Gedächtnisses gelagert sind (Melika 2011).

 

3. Erinnerungsstörungen beim Gebrauch der Appellativen

 

Im Laufe des Lebens erkennt der Mensch eine große Zahl von Gegenständen, Zuständen und Handlungen, von Eigenschaften und Merkmalen, deren Namen im Gedächtnis der Personen in einer oder mehreren Sprachen eingeräumt werden. Leider werden im Laufe der Zeit viele Benennungen in der Erinnerung nicht behalten oder scheinen verloren zu sein. Dieser Prozess des Vergessens gilt auch für mich. Ich nehme an, dass ich diejenigen Wörter vergessen habe, die Dinge bezeichnen, die bei mir keinen aktiven Gebrauch finden bzw., die für mich kein Interesse darstellen oder wertlos wurden. Meistens werden solche Denotate und entsprechende Denotanten im aktiven Tun und Treiben nicht bemerkt, obwohl sie im Blick- und Hörfeld der Person einfallen. Zu solchen Denotaten können aus der natürlichen Umwelt verschiedene Pflanzen-, Holz-, Pilzarten gehören (Melika 2011, 43), die ich früher gebrauchte; zu ihnen gehören auch manche physische, chemische, mathematische Erscheinungen, mit denen ich in der Schule und an der Universität vertraut wurde, aber seither nicht mehr gebrauche und an die ich nicht mehr denke. Demnach werden sie kaum Gegenstand meiner Gesprächen und/oder Gedanken. Einige Wörter, die bekannte Dinge oder Sachen bezeichnen, sind völlig aus dem Gedächtnis verschwunden. Ihre Erwähnung in Texten oder in Fernsehsendungen, wie etwa in. „Discovery Science“, „Spektrum“ usw., erscheinen mir als etwas Neues und ihre Benennungen als neue bisher unbekannte Wörter.

Nicht selten kommt es vor, dass mir immer wieder der Namen eines gut bekannten Gegenstandes (eines Tiers, einer Pflanze etc.) nicht aufkommt. Um den gesuchten Namen aus dem Gedächtnis zu holen, genügt oft die erste Silbe des Wortes, so geschah es mit dem Wort Kolibri. Um auf den Namen dieses kleinsten Vogel zu kommen, ordnete ich mehrmals eine nach der anderen die Silben mit dem Anlaut b-, d-, f-, ..., k-; ka-, -, -, ki-, ku-, ko-; dann folgten kob-, kod-, kom-, ..., kol-; endlich bei kol- tauchte auch der ganze Vogelnamen Kolibri auf. Da ich mehrere Sprachen beherrsche, kommen mir zur Hilfe die Wörterbücher. Falls ich mich an den deutschen Namen eines Dinges oder einer Sache nicht erinnere, kenne aber die französische oder die russische bzw. die ukrainische Benennung, so greife ich nach dem entsprechenden Wörterbuch, was gegenwärtig viel öfter vorkommt als früher. Dabei geschieht ein sonderbarer Erinnerungsprozess: Wenn ich das Russisch-Deutsche bzw. das Ukrainisch-Deutsche Wörterbuch gebrauche, so suche ich gedanklich das nötige Wort nach seiner lautlichen Form, z. B. ukrainisch розпалити [råzрa'lété] für Deutsch „anzünden, entzünden“, wenn ich dagegen ein französisches Wort im Französisch-Deutschen Wörterbuch nachschlage, so erinnere ich mich neben der lautlichen Form des Wortes auch an seine geschriebene Form, z. B. paquerette für deutsch „Gänseblümchen“ oder soupçon für „Verdacht“. Diese besondere Erinnerungsform kann dadurch erklärt werden, dass im Französischen das Geschriebene nicht buchstäblich gelesen wird, z. B. [ε] wird durch: e in cher „teuer“, è in mère „Mutter“, ai in chair „Fleisch“, ê in chêne „Eiche“, ai in mais „aber“, in chaîne „Kette“, ei in peine „Strafe“; [o] wird durch o in pot „Topf“, au in paume „Apfel“, eau in peau „Haut“, ô in vôtre „eure, ihre“(mit Accent circonflex wird gewöhnlich die Länge der Vokale angegeben, was nicht immer eingehalten wird). Eben diese Schriftform im Französischen lässt vermuten, dass die Erinnerungsformen der französischen Wörter bei mir zweierlei Grund haben: 1. dass ich die französische Schriftsprache als Kind von Klasse 1 bis 4 erlernte, 2. dass es im Französischen viele Homonyme gibt, die sich nur schriftlich unterscheiden, z. B. [sã] sang – Blut, sans – ohne, cent – hundert; [рẽ] pain „Brot“, pin „Tanne“, (je) pein (ich) „male“; [kœ] que „dass“, queue „Wedel“ usw.

Es kann vorkommen, dass ich im Geschäft die erwünschte Ware sehe, aber vergessen habe, wie sie heißt. So z. B. stehen im Blumengeschäft zur Wahl viele Sorten von Zimmerblumen. Unter ihnen steht auch der Hibiskus, den ich haben will, aber habe seinen Namen vergessen. So kommt mir zur Hilfe die Hand, mit der ich auf die Blume zeige. Um sich über die Wahl der erwünschten Blume zu versichert, fragt der Verkäufer: „Sie wollen den Hibiskus?“ Wenn während des Gesprächs ein Wort, das einen wichtigen Begriff vertritt, ausfällt, so suche ich nach Synonymen oder bemühe mich durch Umschreibung den aktuellen Begriff auszudrücken. So geschah es, dass ich während eines Vortrags über die Karpatendeutschen nicht auf das Verb annektieren kam. Um eine längere Pause zu vermeiden, drückte ich den Gedanken mit den Worten „... hat die Sowjetmacht Subkarpatien eigenwillig an die Sowjetunion angeschlossen.“ aus. Diese Art des momentanen Vergessens habe bei vielen älteren Menschen beobachtet.

Nicht selten kommt es zur Hemmung oder Stockung im Redefluss, wenn ein übliches Wort im Satz von sich selbst nicht auftaucht. Dann folgt eine Pause, die durch ein „äää“, „ööö oder „na ..., nu ...“ ausgefüllt wird, bis das nötige Wort einspringt, z. B. „und da bleiben nur noch einige äää, mmm ... Schritte übrig, ...“. Manchmal setzt das nicht einfallende Wort (Schritte) der Gesprächspartner ein. Letztlich konnte ich auf die Frage: „Wohin geht's denn?“ nicht so einfach antworten, weil der Name des Kaufhauses TESCO im Gehirn stecken blieb.

Beim Gebrauch der Schriftsprache tauchen auch Momente der Vergessenheit. So schwankt manchmal bei mir die Sicherheit der Schreibung der Verdoppelung der Buchstaben im Deutschen, z. B. Komissbrot oder Kommissbrot, Apendix oder Appendix (Blinddarm). Im Ukrainischen ist die verdoppelte Schreibung der Buchstaben auch unsicher; die meisten Fremdwörter mit Verdoppelung werden ukrainisch einfach geschrieben, dennoch gibt es Ausnahmen, z. B. ['gama] гама /gama/ – Skala, гамма /gamma/ – griechischer Buchstabe. In diesen Fällen kommen gewöhnlich mir zur Hilfe die Wörterbücher.

 

 

Erinnerungsstörungen beim Gebrauch der grammatischen Strukturen

 

Bei Monolingualen, die ihre Erstsprache in der vorschulischen Kindheit angeeignet und sie in der Schule erlernt haben, erfahren die grammatischen Strukturen mit dem Altern fast keine Gedächtnisstörungen. Diese Besonderheit kann dadurch erklärt werden, dass die grammatischen Kategorien die universalen Existenzformen der Zeit, des Raums und der Zahl in jegliche Textstrukturen wiedergeben (Melika, Hvozdyak 2005).

Meine Gattin, die an eine sich vertiefende Demenz leidet, spricht das ruthenische Idiom und die ungarische Sprache grammatisch richtig, auch die später erlernte ukrainische Sprache gebraucht sie im Gespräch fehlerlos. Dagegen verwechselt sie die Zeit und den Ort, in denen die erlebten Ereignisse verliefen, erdachte oder geträumte Geschehnisse hält sie für wahr, die stets erfolgten Handlungen kann sie im Gedächtnis nicht behalten. Doch die im Blickfeld fallenden Gegenstände des täglichen Gebrauchs nennt sie bei den Namen. Ihre Erzählungen über ihre Vergangenheit als Lehrerin sind sprachlich korrekt und scheinen durchaus wahrhaftig zu sein. In der Wirklichkeit aber wiedergibt sie ihre Erlebnisse verwirrt, indem Folge und Ursache, Zeit und Raum untereinander verwechselt werden. Daraus folgt, dass bei meiner Gattin die Erinnerungsstörungen und der Erinnerungsausfall im Rahmen des ersten Signalsystems ruhen. Das zweite verbale Signalsystem (Spichtig 2006) scheint weniger zu leiden.

Bei Multilingualen können grammatische Störungen auftreten, wenn die Zweitsprache bzw. weitere Sprachen in späterer Zeit erlernt wurden und er (der Multilinguale) eine oder zwei Sprachen bis zu einem bestimmten Grad subordinativ beherrscht. Sind in den vertrauten Sprachen die grammatischen Kategorien verschieden, so können beim Multilingualen Verschiebungen interferierenden Charakters auftreten (Földes 2003), z. B. die Kategorie des Genus enthält im Deutschen, Ukrainischen und im Russischen je drei grammatische Genera (m, f, n), im Französischen zwei Genera (m, f), im Englischen und Ungarischen fehlt die Kategorie des Genus. Wenn auch die Zahl der Genera gleich ist, fallen die Geschlechter der einzelnen Substantive weit nicht immer zusammen, so z. B. ist die Milch deutsch weiblich, le lait französisch männlich, молоко /moloko/ukrainisch und russisch sächlich; dt. Kind (n), fr. enfant (m), uk. дитина /déténa/(f), ru. ребёнок /rebjonok/(m) aber überall weiblich ist - dt. Erde (f), fr. terre (f), uk., ru. земля /zemľa/(f) oder männlich – dt. Wind (m), fr. vent (m), uk. вітер /vitär/(m). Die kausalen Verhältnisse der Zeit, des Ortes und der Possession werden grammatisch in den erwähnten Sprachen verschieden wiedergegeben: im Französischen durch Präpositionen bzw. Postpositionen, im Deutschen vorwiegend durch Präpositionen und vier Fälle, im Ukrainischen durch Präpositionen und fünf Fälle, im Ungarischen durch postpositionelle Affixe. Die Präpositionen sind allgemein vieldeutig aber in den unterschiedlichen Sprachen nicht gleichsignifikativ, wie etwa die deutsche Präposition auf, die französische sur, die ukrainische bzw. russische на /na/. Eben diese Inkohärenz der polysemantischen Dienstwörter führt zu Bedenken ihres Gebrauchs beim sprachlichen Verkehr der älteren mehrsprachigen Personen. Sprachliche Störungen solcher Art beobachte ich bei mir beim Gebrauch der ungarischen post- und präpositionellen Affixen (ragok), die zwischen den Satzgliedern räumliche zeitliche, possessive und pronominale Verhältnisse wiedergeben. Die sprachliche Aneignung dieser grammatischen Korrelaten verläuft mit dem Altern schwieriger und langsamer, als in den früheren Jahren; ich werde mich dessen bewusst; dass mit dem Altern mein Ungarisch sich kaum verbessert hat. Zu bemerken sei, dass ich beim Fernsehen das ungarisch gehörte Gerede der Politiker über das ökonomische und soziale Leben im Lande gut verstehe. Jedoch beim Gespräch darüber kann ich mich nur schwierig äußern, weil ich nicht imstande bin, die gehörten Worte befriedigend zu reproduzieren. Es ergibt sich der Eindruck, dass die gehörten verbalen Elemente vom Wernicke Areal (Stangl 1975) vernommen (siehe Modell 2 in Melika 2011, 19), im Hörzentrum geleitet und im Gedächtnis (Empirie) gespeichert werden. Bei der Reproduktion der auditierten Elemente werden die neu gespeicherten Lexeme über den sensomotorischen Bereich zum Broca Bereich geleitet und nachfolgend prononciert (siehe Abb.1 in Melika 2011, 18). Daraus folgt, dass die verbalen Elemente auf zweierlei Weise gespeichert werden: 1. als Hörabbilder im Wernicke Areal und 2. als sensomotorische Abbilder im Broca Areal. Auf diese Weise erfolgen die verbalen Verbindungen zwischen dem Wernicke und dem Broca Arealen über den sensomotorischen Bereich. Falls im Letzteren keine Verbindungen bestehen, so können die gehörten Sprachelemente nicht reproduziert werden. In der frühen Kindheit werden diese Verbindungen erst nach längerer Zeit der Hörwirkung entwickelt (Dittmann 2010, 21). Bei älteren Menschen können sie (die Verbindungen) gestört werden, wodurch Stockungen bzw. Hemmungen im Redestrom hervorgerufen werden. Die früher erstellten Verbindungen bleiben bei oft gebrauchten Worteinheiten meistens bestehen. Die selten angewandten Wörter und Wendungen können dagegen wegen ihrer losen Haftung den Sprachverkehr beeinträchtigen. Diese Erscheinung bedingt auch bei mir Redestörungen nicht nur beim ungarischen Sprachgebrauch, sondern auch beim Russischen. Wie sich bei mir das Deutsche oder das Französische verhält, kann ich wegen ihres seltenen Redegebrauchs nicht bewerten. Im Ruthenischen und Ukrainischen spreche ich weiterhin fließend ohne merkbare Störungen.

      Die Schreibung dieses Artikels verlangte bei mir bedeutend mehr Zeit, als die Schreibung eines ähnlichen Artikels vor einigen Jahren, was von einem sich beschleunigenden Prozess der kognitiven Dysphasie zeugt. Gegen diesen Stand des Alterns kann nur eine ständige Belastung des Gehirns zur Hilfe kommen. Neben pharmazeutischen Mitteln ist es erwünscht, die geistige Arbeit und die mentale Aktivität fortzusetzen und sie womöglich nicht aufzugeben.

 

 

 

Literatur:

 

Altern: de.wikipedia.org/wiki/Altern

Gregor-Georg Melika: Gelebte Mehrsprachigkeit – Rückblick auf meine Spracherwerbprozesse. In: Studia Germanica Universitatis Vesprimiensis, Jg. 14 (2010) Heft 1-2, S. 85-94.

Natalia Holovčak, Georg Melika: Schriftliche Variabilität der deutschen Familiennamen Transkarpatiens. In: Studia Germanica Universitatis Vesprimiensis, Jg. 6 (2002) Heft 1, S. 21-27.

Georg-Gregor Melika: Psychosoziale Relationen der verbalen Kommunikation. Miskolc 2011.

Spichtig, Remigius: Evolution des Bewusstseins. Grundlagenforschung der korrelativen Verhaltens-Psychologie. Würzburg 2006.

Csaba, Földes: Interkulturelle Linguistik. Vorüberlegungen zu Konzepten, Problemen und Desiderata. Veszprém 2003.

Heidler, M.-D.: Kognitive Dysphasien. Differenzialdiagnostik aphasischer und nichtaphasischer zentraler Sprachstörungen sowie therapeutische Konsequenzen. Frankfurt am Main, Peter Lang Verlag 2006.

Kognitive Dysphasien: de.wikipedia.org/wiki/Kognitive Dysphasie.

Stangl, Werner: Gehirn und Sprache. In: https://arbeitsblätter.stangl-taller.at

Dittmann, Jürgen: Der Spracherwerb des Kindes. Verlauf und Störungen. München 2010.

Melika, Georg; Hvozdfyak, Olga: Prinzipien der linguistisch-stilistischen Analyse eines schöngeistigen Textes. In: Texte. Spielräume interpretativer Näherung. Landauer Schriften zur Kommunikations- und Kulturwissenschaft. Hrsg. Stephan Merten / Inge Pohl. Knechtverlag 2005, S.395-410.

 

Prof. Dr. Georg-Gregor Melika, Miskolc, am 27.03.2015

Zurück

Durchsuchen

© 2015 Alle Rechte vorbehalten.